Präsident Biden vor schwieriger Aufgabe
Die USA haben vier Jahre die Amtszeit eines Präsidenten überlebt, für den Wahrheit und Scham Fremdwärter sind, der von einer Partei getragen wurde, die zynisch nur an Machterhalt dachte. Ermöglicht und verstärkt wurde die Lage durch einen bestimmten Fernseh-Sender (Fox News) und Radiomoderatoren, ohne jegliche Integrität, die verlogene Verschwörungstheorien weitergaben und verbreiteten. All das wurde zudem verstärkt und auf die Spitze getrieben durch eine gnadenlos herrschende Pandemie. Erstaunlich, dass nicht das ganze demokratische System Amerikas zusammenbrach, obwohl dazu äußerste Gefahr bestand, wie die Eroberung des Capitols durch gewalttätige Horden zeigte.
Die Schreckensherrschaft des Präsidenten Donald Trump ist zu Ende. Sein Geist, besser sein Ungeist, lebt jedoch als Trumpismus in seiner Republikanischen Partei und unter seinen zahlreichen Anhängern weiter, und die Themen, die ihn ins Weiße Haus gebracht haben, sind noch immer aktuell und werden Zündstoff in der Zukunft sein.
Hauptsächlich sind es die folgenden Streitpunkte: Die Grenze zu Mexiko und Einwanderung (Mauerbau); Abhängigkeit der USA von Importen und Widerstand gegen Chinas Streben nach ökonomischer Domination (Strafzölle); militärisches Engagement der USA in anderen Ländern (Truppenabzug); internationale Abkommen, die kostspielig seien und Amerikas selbstbestimmte Politik einschränken (Kündigung); Restriktionen im Geschäftsleben, Naturschutz, Umweltschutz in Zeiten des Klimawandels (Aufhebung bzw. Einschränkungen); Misstrauen in die Medien („fake news).
Die Lösungen, die Trump für die genannten Probleme gefunden hat, erfreuten sich und erfreuen sich noch immer der Zustimmung von ca. 74 Millionen Amerikanern, also all derer, die ihn gewählt hatten. Daher standen sie hinter ihm, als er mit Lügen, Erpressung und der Behauptung, die Demokratie zu schützen, nachweisen wollte, dass Biden durch eine gefälschte Wahl Präsident geworden sei. Neunundfünfzig verlorene Gerichtsprozesse konnten ihn und seine Wähler nicht davon überzeugen, dass er der Verlierer war. Die gewaltsame Stürmung des Capitols durch fanatische Trump-Anhänger schockierte die Nation. Sie brachte die Demokratie in Gefahr — doch die Demokratie widerstand.
Joe Biden hat die Wahl mit großem Vorsprung gewonnen. Seine Demokratische Partei, obwohl sie eine äußerst knappe Mehrheit im Senat erreichte, hat allerdings im Repräsentantenhaus und landesweit große Verluste erlitten. Das bedeutet: Der größte Teil der Amerikaner hatte zwar genug von Trump, wollte aber durch die Wahl vieler republikanischer Abgeordneten sicherstellen, dass die Republikanische Partei weiterhin über große Machtfülle verfügt.
Mit ihr muss der 78-jährige Präsident Biden rechnen. Er gehört zu jenen, der die Wut seiner Gegner nicht mit gleicher Wut beantwortet, sondern weitreichende Sympathie erwirken will. In seiner Antrittsrede forderte er von der Nation das Bekenntnis zu den alten Werten „Empathie, Würde, Vernunft und Respekt“ und versprach, seine Kraft einzusetzen für die Versöhnung der Parteien und die Einigung des Landes. Ob er das hochgesteckte Ziel erreicht, die Spaltung zu überwinden, hängt davon ab, ob das andere Amerika, Trumps Amerika, bereit ist, die ausgestreckte Hand zu ergreifen.
Der Rhetorik folgten Taten. Schon am ersten Tag erließ der neue Präsident eine Reihe von Verfügungen und hob damit einige Entscheidungen seines Vorgängers auf. Dazu gehören u.a. der Baustopp der Mauer an der Grenze zu Mexiko, der Baustopp der umstrittenen Keystone Pipeline, Aufhebung des Einreiseverbots für Muslime aus mehreren Ländern und die Rückkehr der USA zum Klimaabkommen von Paris und zur Weltgesundheitsorganisation.
Biden steht jetzt vor der unendlich schwierigen Aufgabe, die er sich selbst gestellt hat: Die Spaltung des Landes zu überwinden und die „Seele“ Amerikas, wie er es nennt, wieder zu beleben. Eine der Standard-Aussagen Bidens ist jene, mit denen Amerikaner seit Jahren von Politikern refrainartig bombadiert werden: „Es gibt mehr, das uns vereint, als das uns trennt.“ Doch die Spaltung zwischen links und rechts hat sich ebenfalls seit Jahren immer mehr vergrößert. Da muss die Frage gestellt werden: Was ist das „mehr“, das Amerikaner vereint? Der Aufstand und die gewaltsame Erstürmung des Capitols haben gezeigt, dass die Prinzipien der amerikanischen Demokratie – Gleichheit, Gerechtigkeit und Freiheit für alle – alles andere als gesichert sind. Dass sie garantiert seien, war seit jeher der Leitgedanke der patriotischen Geschichten, die von einer Generation an die nächste weitergegeben wurden und den Mythos von der amerikanischen Demokratie begründeten. Der Mythos ist ins Wanken geraten. Zweifel kommen auf, ob Amerika noch der Schmelztiegel der Welt und das Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist, ob es immun ist gegen die Gefahren von Diktatur, wie sie in anderen Ländern besteht. Wird es Herr der Gefahr, dass sich „white supremacy“, Dominanz der Weißen, und christlicher Nationalismus fortsetzen und den aktuell existierenden Pluralismus beenden? Wird die Radikalisierung der Republikanischen Partei weiterhin vom Ex-Präsidenten Trump angetrieben?
Kann Amerika noch Vorbild für die Welt sein, als die „leuchtende Stadt auf einem Hügel“, von der Amerika seit John Winthrop bis Ronald Reagan geträumt hatte? „This is not who we are“, so sind wir nicht wirklich, sagte Binden im Hinblick auf die Vorkommnisse der letzten Monate. Aber wieder die Frage: Wer sind die Amerikaner wirklich, wenn nicht auch das, was fast die Hälfte von ihnen mit ihrer Missachtung der freien demokratischen Wahl demonstriert hat?
Die chaotischen Ereignisse des letzten Jahres konfrontieren das Land mit der Forderung einer grundsätzlichen Neudefinition der amerikanischen Identität. Wird es Biden als Präsident gelingen, an eine zweihundertfünfzig Jahre demokratische Tradition anzuknüpfen und das Bild eines starken demokratischen Amerikas wieder zu beleben?
Es bleiben Fragen über Fragen. Mit Amerika selber wartet die ganze Welt auf Antworten.