Einer nach dem anderen ist gegangen. Einstige enge Freunde, Mitstreiter aus Theater, Musik, Ballett, Literatur, Malerei und Bildhauerei. Aus der ehemaligen Künstlerkneipe „Zur Goldenen Stadt“ ist ein Bistro geworden. Wir haben die Worte geteilt, das Essen, das Bier.
Studenten kamen auch. Ich mag es nicht hören, wenn jemand sagt:“Du weinst den 68igern nach“. Nein, wir sind nicht marschiert, haben nicht „Ho Tchi Minh“ gerufen. Wir lebten in einer eigenen Welt. Sie war bunt, voller Ideen, wir suchten die Veränderung innerhalb der Bourgeoisie, der trägen Masse, die uns umgab.
Wenn wir mit mehreren Kunstschaffenden – egal welcher Disziplin – das nebenan befindliche, gleichnamige Restaurant aufsuchten, leerten wir zunächst einmal unsere Taschen und legten alles Geld in die Mitte eines runden Tisches, zählten es und wenn wir glaubten, es reiche für Essen und Trinken für sechs Personen, riefen wir „Pedro“, den Kellner an unseren Tisch und fragten ihn, ob er uns für den Betrag mit Fleisch, Gemüse, Kartoffeln und drei Flaschen Rotwein bewirten könne?
Pedro zählte das Geld, legte den Kopf schief und dachte nach. Dann nickte er und verschwand, um uns Platten zu ordern, stellte Rotweingläser bereit und brachte die gewünschten Rotweinflaschen an den Tisch.
Ich vermisse das sehr, vermisse jeden einzelnen der Gruppe. Die meisten von ihnen sind schon lange tot.
Was ist aus Heinrich Funke geworden, dem Künstler und Bandleader der Gruppe „Hörb Ares“? Auf dem Kennedyplatz in Essen haben wir die „Stadtverwaltungspolka“ gespielt. Die Klarinette spielte die zarte Anfrage an das Ordnungsamt zur Genehmigung einer Kunstaktion auf der Brehminsel in Essen-Werden. Das Tenorsaxophon antwortete die Ablehnung. Der Schlagzeuger legte den angebissenen Apfel beiseite und trommelte wild drauflos. Dirigiert habe ich. Wer sonst?
Berichtete ein Journalist schlecht über meine Gruppe oder mich selbst, rief ich den Eigentümer der Zeitungsgruppe an. Daraufhin bekam der Schmierfink einen Einlauf. Beim nächsten Auftritt meldete sich dieser zu Wort und sagte, dass er etwas Gutes schreiben würde. Ich daraufhin: „Das brauchst Du nicht!“ So ging freie Presse! Der Inhaber der Zeitungsgruppe mochte mich, und ich mochte ihn!
Zuweilen ließen sich auch Ratsherren in der Szene-Kneipe sehen, setzten sich an die Tische des Künstlervölkchens, tranken mit uns Budweiser-Pils aus Halbliter-Krügen.
Kam es in einer der Messehallen an der Gruga zu einer überregionalen Kunstausstellung mit Präsentation der Literarischen Szene, bediente in der Cafeteria auch schon mal eine Servicekraft „oben ohne!“
„Meine Güte“, denke ich, „wie bieder sind die Vernissagen heutzutage“.
Ich habe einmal anlässlich einer Vernissage meiner Ausstellung in der Galerie der Experimente in Bochum, den Redner unterbrochen. „Ist gut, ich mache weiter!“
Bin auf einen Stuhl gestiegen, den man mir reichte, und habe mein Manifest vorgetragen,das Manifest des Neosymbolismus. Demnach sind Bildende Kunst und Literatur eine Einheit in der Aussage.
Dem hat der damalige Kunstprofessor Beuys von der Kunstakademie in Düsseldorf zugestimmt. Ein Zitat: von ihm „Malen oder Bildhauern alleine, ohne weitergehenden Bezug zu den elementarsten Geschehnissen in der Gesellschaft, reichen nicht aus. Der Neosymbolismus überträgt diese Erkenntnis auf die Literatur. Das war meine Botschaft. Und sie kam an, verfehlte ihre Wirkung nicht im Stadtrat der Stadt Essen, durch Unterstützung der Ratsherren, die für Kultur zuständig waren – und zwar von allen Parteien, die damals in Funktion waren. Und es ging um viel Geld, denn wir forderten eine Szeneausstellung in den Messehallen an der Gruga. Es ging konkret um 120.000.- DM.
Ja, wir haben seinerzeit durch Initiative der „Bürgerinitiative Kunst“, die wir gegründet hatten, über eine Unterschriftensammlung, mit Unterstützung des Bürgermeisters, des Stadtdirektors und der Ratsherren diese Szeneausstellung an der Gruga bekommen.
Es sei hervorgehoben, dass sowohl die CDU, als auch die SPD und die FDP gemeinsam daran mitgewirkt hatten.
Leider hat man seinerzeit bei der Vergabe der Ausstellungsflächen auch diejenigen beteiligt, die sich aus Mitgliedern zweier gegenpoliger Kunstverbände zusammensetzten.
Zitat eines dieser Aktiven „Herr Reliwette, Sie haben ein extremes Kunstverständnis!“
„ Nee, nee, nee“, habe ich geantwortet, „so geht Kunst heute!“
Wenn Sie, liebe Leser, sich bei Zitaten von Beuys einloggen, werden Sie fündig: „ Ja ja ja, nee, nee, nee!“ Das geht so ein paar Minuten lang! Allerdings fußt dieser Ausspruch auf dem Bibeltext: „Deine Rede sei „Ja ja und nein nein.“
Ich bin traurig, dass ich meine Freunde verloren habe, meine Mitstreiter. Ich trage die Klamotten auf, die mir die Witwen ganz großer Zeitgenossen geschickt haben mit der Bemerkung:“Ist bei Dir besser aufgehoben als bei mir!“
„Von Peter Coryllis- eine blaue Strickjacke, von Karl-Heinz Schreiber den Lederhut mit der fränkischen Flagge , einer Anstecknadel, vorne drauf. Von Joseph Beuys einen handgeschriebenen Brief, in welchem er mich seiner Freundschaft versichert.
Alle tot! Brigitte Lebaan, Chansonsängerin und Schauspielerin der Städtischen Bühne Essen, tot. Auf meinem 44. Geburtstag haben meine Gäste unter ihrer Anleitung Fallübungen gemacht. Wo sind die Gäste von damals? Wahrscheinlich tot oder im Altenheim. Ja, komm, etwas Satire muss auch in dieser Offenbarung sein!
Ich bin übrig geblieben und lebe in Ostfriesland – seit 1981 hier aktiv! Nichts gegen Ostfriesen….
Geblieben ist mein „Berliner- oder Ruhrpott- Duktus“. Natürlich kann ich auch anders, aber ich will nicht! Schmerzende Inhalte durch edle Form aufzubessern hilft nicht wirklich!
Der alte Kunstmeister im 77.Lebensjahr grüßt sehr herzlich!
Nicht lullen lassen, noch sind wir!
Eine gute Zeit, Euch!